Dieser Text ist zuerst auf Englisch bei Freedom News erschienen. Wir veröffentlichen hier die Übersetzung, weil wir denken, dass er auch für deutsche Antiautoritäre im hiesigen Kontext von Interesse ist.

Bitte beachtet auch die Antwort bzw. Erweiterung von Ross Chrisdale, die wir auch auf unserem Blog übersetzt haben: klick.


Fünf schnelle Gedanken über die Grenzen von COVID-19-Soli-Gruppen [Gruppen für Gegenseitige Hilfe, mutual aid] und wie wir darüber hinaus gehen können

Kommentar, 5. April 2020

Vor drei Wochen habe ich mich entschieden eine Facebook-Gruppe einzurichten, um den Leuten zu helfen in meinem kleinen Teil von Süd-Ost-London aufeinander aufzupassen. Obwohl ich mich dabei auf die anarchistische Tradition der Gegenseitigen Hilfe bezog, dachte ich nicht, dass es sich dabei um einen besonders revolutionären Akt handelt – ich wusste nur, dass ich in einer armen Nachbarschaft der Arbeiterklasse wohne, die eine hohe Dichte an alten und auf andere Weise verletzlichen Leuten aufweist, und dass weder die Zentral- noch die Kommunalregierung den Willen oder die Ressourcen haben werden, uns zu unterstützen. Seitdem sind COVID-19-Gruppen für Gegenseitige Hilfe – entschuldigt den Wortwitz – viral gegangen und mehrere Tausend von Gruppen mit diesem Namen sind im ganzen Land entstanden. Einige sind anscheinend eine wunderbare Blüte menschlicher Solidarität; andere sind eitle Projekte angehender Capt. Mainwarings, die offensichtlich nur auf eine Gelegenheit gewartet haben Befehle zu geben, seit sie aus ihrem Verwaltungsjob in Rente gegangen sind.

Glücklicherweise habe ich die meisten linken Online-Debatten über diese Gruppen bisher vermeiden können. Einerseits weil ich so beschäftigt war (Essenslieferungen organiseren, etc.), andererseits weil ich – nach langem hartem Kampf – endlich eine Aversion gegen diese sinnlosen Quälereien entwickle. Aber aus dem was ich so mitbekomme, schließe ich, dass die Meinungen (vorhersehbar) darüber geteilt sind: Auf der einen Seite, sehen die Einen diese Gruppen mit verzückten Augen als wunderbares Beispiel von ‚anarchy in action‘ (um Colin Wards berühmte Phrase zu bemühen) und auf der anderen Seite die mürrischen Debatten-Scharfschützen der Ultra-Linken, die die realen Beschränkungen dieser Gruppen als eine Ausrede benutzen um sich nicht selbst bemühen zu müssen und anderen Leuten zu helfen. Ich glaube beide Seiten sind falsch und richtig zugleich, in mehr oder weniger gleichem Maße, und was nun folgt sind einige wirklich sehr eilige Gedanken darüber warum. Diese Gedanken sind nicht gut durchdacht, erschöpfend oder theoretisch nuanciert; sie sind halbgare Beobachtungen, die ich zu einer Zeit rausgehauen haben, die ich zum ‚Runterkommen‘ hätte nutzen sollen. Aus diesem Grund sind sie vermutlich komplett falsch. Aber ich hoffe, dass sie wenigstens produktiv falsch sind. Und wenn nicht – dann hab ich es wenigstens versucht, oder?

  1. Die meiste ‚Hilfe‘, die von den Gruppen angeboten wird, steht nicht im Gegensatz zur Logik des Kapitals – es handelt sich bloß um Einkaufen für andere Leute. Ob es sich bei diesen Aktivitäten überhaupt um etwas handelt, dass den Namen ‚Gegenseitige Hilfe‘ verdient, ist meiner Meinung nach eine offene (wenn auch langweilige) Frage. Letzten Endes: Das Kapital hat immer noch im Griff, was wir brauchen um zu Überleben und wir zahlen dafür immer noch mit dem Taschengeld, dass sie uns (noch) nicht gestohlen haben – selbst wenn jemand anderes dem Verkäufer das Geld überreicht. Tatsächlich hat ASDA [eine britische Supermarktkette], unsere Bemühungen begeistert unterstützend und eine ‚Freiwilligen-Karte‘ eingeführt, die es uns einfach statt schwerer macht ‚Gegenseitige Hilfe‘ anzubieten.

  2. Nachdem das gesagt ist: einige C-19-Soligruppen versuchen wenigstens etwas jenseits des Warentauschs anzupeilen. In meiner lokalen Gruppe konnten wir erste kleine Akte der direkten ökonomischen Umverteilung beobachten und die (begrenzte) kostenlose Bereitstellung lebensnotwendiger Güter. An anderen Orten haben Netzwerke gegenseitiger Hilfe mobilisiert um Mieter:innen vor den Zwangsräumungen zu schützen, von denen man uns erzählt hatte, sie seien abgesagt. Meiner Ansicht nach ist die dringende Frage die sich darum dreht wie wir diese Tendenz erweitern und intensiveren können. Genauer: Wie können diese Gruppen die De-Kommodifizierung der Dinge, die wir zum leben und überleben brauchen, propagieren?

  3. Unabhängig davon ob C-19-Soligruppen eine Gefahr für den Kapitalismus darstellen oder nicht, helfen sie – in der Tat – einer großen Menge von Menschen die gegenwärtige Krise zu überleben. Das ist nichts worüber man die Nase rümpfen sollte. Kollektives Überleben ist weit davon entfernt die Revolution zu sein, aber, das haben uns die Black Panthers gelehrt, es ist die notwendige Vorbedingung für die Möglichkeit der Revolution.

  4. Lokale Soligruppen helfen – in einer unglaublichen Geschwindigkeit – Verbindungen von Freundschaft und Solidarität aufzubauen, die in den letzten 40 Jahren rassistischem Neoliberalismus abgetragen wurden. In den hunderten Gesprächen, die ich mit Nachbarn in den letzten Wochen hatte, gab es allgegenwärtige Stimmung der Überraschung, dass Leute ihren gewöhnlichen Trott verlassen um einander zu helfen. Dies legt ein Potential (zwar nur das…) nahe, um die Ansichten der Leuten darüber, was möglich ist, anzugehen: Sie können als lebender Beweis dafür dienen, dass die Dinge anders sein können, dass wir uns für Sorge[care] und Solidarität anstatt Wettbewerb und Profit entscheiden können und – am wichtigsten – dass es für uns alle besser ist, wenn wir das tun. Damit will ich nicht sagen, dass die Soligruppen alleine fähig sind das Misstrauen und die Feindseligkeit zu exorzieren, die so viele unsere sozialen Beziehungen durchsetzt – sie können es nicht – aber sie können immerhin die Hoffnung eines Anfangs in diesem Prozess geben. Das macht sie, soweit ich das abschätzen kann, zu einem der wenigen Ansatzpunkte derzeit.

  5. Wenn wir wollen, dass die Organisierung der letzten paar Wochen etwas ist, dass die Gesellschaft in Richtung der Befreiung bewegt, müssen wir noch viel mehr Arbeit leisten. Wir müssen demokratische Strukturen in den Soligruppen vorantreiben; der Unterdrückung und Diskriminierung innerhalb der Gruppen entgegentreten; Verbindungen zu anderen Kämpfen aufbauen (Arbeitskämpfe, dem Kampf für die Rechte von Migrant:innen, für die Abschaffung der Gefängnisse …) und Formen der Hilfe und Solidarität unterstützen, die über das bloße Kaufen von Waren für andere Leute hinausgehen. Das wird nicht nur ein Riesenaufwand werden, sondern auch die oft vergessene revolutionäre Tugend der Geduld benötigen. Zu viele Male haben ich Genoss:innen in den letzten Woche die WhatsApp-Gruppe verlassen sehen, weil sie nicht daran interessiert sind, an einer nicht explizit politischen Gruppe mitzumachen‘. Als ob die Sorgearbeit für (und mit!) denen, die als ‚überflüssig‘ angesehen werden, nicht an und für sich schon wichtige Arbeit ist, als ob sie sich nicht mit Leuten abtun wollen, die nicht automatisch wie sie selbst denken. Wenn wir diesen puritanischen Impulsen nachgeben (die in vielen von uns exisitieren, inklusive mir), verdammen wir uns nicht nur zu Irrelevanz, sondern lassen auch die Menschen und Ideale im Stich, die uns angeblich so stark kümmern.

Anna Kleist