Auf Englisch erschienen am 11. März 2023 bei Void Network; Ein Bericht von Theodoros Karyotis

Ein Update für unsere deutschsprachigen Freund*innen, die sich einen Reim auf die Geschehnisse in Griechenland machen wollen: Am späten Abend des 28. Februar starben bei einem Zusammenstoß zweier Züge der kürzlich privatisierten und chronisch maroden Eisenbahn mindestens 57 Menschen, die meisten von ihnen Student*innen der Universitäten von Thessaloniki. Seitdem kommt es zu ständigen Mobilisierungen, Märschen, Demonstrationen und Streiks. Gleichzeitig haben sich in den letzten Monaten Theaterstudent*innen und Künstler*innen mobilisiert, um ihre Arbeitsrechte zu verteidigen; Die Nationaltheater in Athen, Thessaloniki, Patras und anderen Städten sind besetzt, ebenso wie nationale Schauspielschulen und Schulen der bildenden Künste an Universitäten in Athen, Thessaloniki, Nafplio und anderen Städten.

Bild vom Zugunglück

Brennender Bagger

Demo Patras

Demo Larissa

Demo Athen

Am 8. März fiel der Frauenstreik mit einem Generalstreik zusammen; in mehr als 80 Städten, Gemeinden und auf den Inseln fanden Demonstrationen statt. In Athen und Thessaloniki kam es zu den größten Demonstrationen seit etwa zehn Jahren. Allein bei der morgendlichen Generalstreik-Demo und der nächtlichen Frauen-Demo in Athen demonstrierten mehr als 100.000 Menschen.

Mörder! Privatisierung tötet – Feministische Demo am 8. März
Mörder! Privatisierung tötet – Feministische Demo am 8. März

Brennender Bus bei Demo

Rauchschwaden bei Demo

Trauer und Wut haben das Land erfasst, denn ein großer Teil der Bevölkerung wird sich der Tatsache bewusst, dass es sich bei dem Zugunglück nicht um einen Einzelfall aufgrund menschlichen Versagens handelte, wie man uns glauben machen will, sondern um die logische Folge einer jahrelangen Degradierung und Prekarisierung unseres Lebens, die von allen Regierungen zugunsten privater Profite orchestriert wurde. Der Vorfall offenbart einen tiefen Verfall auf vielen verschiedenen Ebenen: die kriminelle Vernachlässigung und Verschlechterung der öffentlichen Infrastruktur, die Unterbesetzung und Unterfinanzierung aufgrund von Sparmaßnahmen, die Privatisierungsabkommen nach kolonialem Vorbild, die klientelistische Aneignung öffentlicher Dienstleistungen, die Absprachen zwischen Politikern und Bauunternehmern bei großen Infrastrukturprojekten, die Diffamierungskampagnen gegen die Eisenbahngewerkschaften, die ständig Sicherheitsmängel anprangerten, die Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit der Regierung, der Zynismus der Politiker, denen ihre Aussichten auf Wiederwahl wichtiger zu sein scheinen als die dramatischen Verluste von Menschenleben, und die Komplizenschaft der oligarchischen Massenmedien, die lügen und manipulieren, um die wahren Verantwortlichkeiten zu verschleiern.

Das Zugunglück geht uns sehr nahe, denn jede*r identifiziert sich mit den jungen Passagier*innen und ihren trauernden Familien. In den Protesten kommt jedoch auch eine tiefere Unzufriedenheit zum Ausdruck, denn in den letzten Jahren haben sich die Lebensbedingungen für die meisten Menschen drastisch verschlechtert, und zwar durch eine zynische und arrogante politische Klasse, die im Dienste des internationalen Kapitals und ihrer eigenen klientelistischen Netzwerke steht, unterstützt durch die Verdunkelung der Medien und die polizeiliche Unterdrückung aller abweichenden Stimmen. Die Menschen fühlen sich entbehrlich und ungeschützt. Der Massenmord durch den Eisenbahnzusammenstoß ist nur der Höhepunkt der Nekropolitik des griechischen Staates: Hunderte von toten Migrant*innen an den Grenzen, Zehntausende von vermeidbaren Todesfällen durch Covid-19 in Krankenhäusern, die durch die Sparmaßnahmen verwüstet wurden, Ermordungen von Andersdenkenden und Minderheiten durch die Polizei und ein Anstieg der Femizide in den letzten paar Jahren. Gleichzeitig sollen schätzungsweise 100.000 Haushalte ihre Häuser an Geierfonds verlieren, und die Regierung ebnet den Weg für die Privatisierung der Wasserbetriebe - die vor 10 Jahren durch eine Massenbewegung erfolgreich gestoppt wurde - sowie des Gesundheits- und Bildungswesens.

Rettungswagen bei Zugunglück

Schüler*innen und Studierende, die eine Generation repräsentieren, die nichts anderes als Prekarität und Verwahrlosung erlebt hat, stehen an der Spitze der Mobilisierungen. Feministische Organisationen, Gewerkschaften, Lehrer*innen, Künstler*innen, Migrant*innen, linke, anarchistische und antiautoritäre Gruppen mobilisieren ebenfalls gegen eine arrogante Regierung, die schon zu lange mit Repression, Propaganda, Angst und Überwachung regiert. Die Proteste werden routinemäßig mit Tränengas und Polizeieinsätzen beantwortet, aber das reicht kaum aus, um die Menschen abzuschrecken. Zu den Slogans gehören: “Das war kein Unfall, das war Mord”, “Ihre Profite, unsere Toten”, “Sie reden von Profit und Verlust, wir reden von Menschenleben” und “Unsere Tränen sind versiegt und haben sich in Wut verwandelt”.