Die Lebensmittelausgabe von Woodbine

Aus dem Englischen übersetzt, zuerst erschienen im Newsletter subtext von AJ+

Kann eine Gruppe von Anarchist*innen erfolgreich sein, wo die Regierung versagt hat?

Woodbine ist ein von Freiwilligen betriebenes Kulturzentrum in Ridgewood, Queens, einem überwiegend von Migrant*innen und der Arbeiterklasse bewohnten Viertel am östlichen Rand von New York City.

Vor der Pandemie fanden dort Vorträge, Filmvorführungen und Poesieabende statt; Organizer*innen und politische Gruppen nutzten es für Treffen und Versammlungen; jeden Sonntagabend gab es kostenlose Mahlzeiten; und allgemein diente es als soziales Zentrum für Anwohner*innen und Aktivist*innen.

Doch zu Beginn der COVID-19-Pandemie verlagerten die Mitglieder und Freiwilligen von Woodbine fast alle ihre Bemühungen auf die Verteilung von Lebensmitteln an die Nachbarschaft, zusammen mit Kleidung und Hilfe bei der Unterbringung. Dies war Teil einer Welle von Projekten gegenseitiger Hilfe, die überall auf der Welt entstanden, als die Regierungen dabei versagten, zu helfen. Auf dem Höhepunkt der Pandemie verteilte die Tafel von Woodbine jede Woche Lebensmittel an rund 3.000 Menschen - und das Projekt läuft immer noch.

Ich habe mich mit Matt Peterson, Organizer und Filmemacher von Woodbine, darüber unterhalten, wo das Kollektiv heute (Februar 2022, agfb), nach fast zwei Jahren COVID in New York City, steht.

(Dieses Interview wurde aus Gründen der Länge und Klarheit überarbeitet.)

Kannst du uns etwas über die Gründung der Tafel erzählen?

Kurz nach der Eröffnung von Woodbine im Jahr 2014 begannen wir, wöchentliche Sonntagsessen zu veranstalten, die für alle offen waren. In unserem zweiten Jahr starteten wir einen Gemeinschaftsgarten und die Möglichkeit, bei einer gemeinschaftlich getragenen Landwirtschaft einzukaufen (community-supported agriculture/CSA, auf Dt. auch: Solidarische Landwirtschaft, agfb), um unsere Nachbarn direkt mit Bio-Produkten von kleinen, unabhängigen Bauernhöfen in der Region zu versorgen.

Diese Projekte halfen uns, Verbindungen in Ridgewood aufzubauen, unter anderem zu einer lokalen Obdachlosen- und Lebensmittelrettungsorganisation namens Hungry Monk. Als die Pandemie in New York im März 2020 ausbrach, haben wir uns mit ihnen zusammengetan, um gemeinsam an fünf Tagen in der Woche kostenlose Lebensmittel in Ridgewood zu verteilen. Das machen wir jetzt schon seit fast zwei Jahren so.

Die ersten Monate der Pandemie waren chaotisch, mit all den Sirenen, der Ungewissheit, den Todesfällen, der Wirtschaft und der Schließung von Schulen. Dennoch ist es uns gelungen, uns in das Nothilfenetzwerk, das sich in New York gebildet hatte, einzugliedern, und wir haben herausgefunden, wie wir ein Knotenpunkt für die Annahme und Verteilung von Lebensmitteln und anderen Hilfsgütern an unsere Nachbar*innen werden können.

Bitte beschreib die Bedingungen in New York, die die Tafel so notwendig machten.

Als Kollektiv haben wir über die letzten 20 Jahre, die wir in New York City gelebt haben, nachgedacht, vom 11. September 2001 über die Finanzkrise 2008 und den Hurrikan Sandy im Jahr 2012 bis hin zu dieser Pandemie. Aufgrund der Größe und Dichte New Yorks, seiner veralteten Infrastruktur und des extremen Wohlstandsgefälles, seiner globalen Position als finanzielles, politisches und kulturelles Zentrum, geht hier oft etwas sehr schief, wenn etwas schief geht.

Freund*innen in Europa und sogar in Kanada können sich nur schwer vorstellen, wie schnell man hier in den USA durch das wohlfahrtstaatliche Sicherheitsnetz fällt. Das gilt besonders für ein Viertel wie unseres, in dem hauptsächlich Migrant*innen aus der Arbeiterklasse wohnen, von denen viele Englisch als zweite oder sogar dritte oder vierte Sprache sprechen und von denen einige keine Papiere besitzen.

In den ersten Wochen, in denen die Gruppen für gegenseitige Hilfe kostenlose Lebensmittel anboten, standen viele Familien aus Gründen an, die nichts mit COVID zu tun hatten. Diese Notsituation hat lediglich einen neuen Kontext geschaffen, der die Ernährungsunsicherheit sichtbar gemacht hat.

Als wir uns um diese Bedürfnisse herum organisierten, konnten wir in Ridgewood viel mehr Menschen erreichen, als wir es konnten, als wir in erster Linie als kultureller Raum fungierten. Es waren auch ganz andere Menschen: Wir trafen die Mütter, Großmütter und Tanten der Nachbarschaft, die älteren und beHinderten Menschen. Viele unserer Freiwilligen sprachen nur Polnisch, Arabisch, Chinesisch oder Spanisch, aber wir haben trotzdem Wege gefunden, gemeinsam eine Lebensmittelausgabe zu betreiben.

Wie habt ihr in den letzten zwei Jahren den Schwung und die Energie aufrechterhalten, wo doch Burnout in vielen der neu gegründeten Netzwerke für gegenseitige Hilfe ein Problem ist?

Da die Community um Woodbine schon fast ein Jahrzehnt vor COVID Erfahrungen gesammelt hatte, verfügten wir über Beziehungen und Bindungen, die nicht nur spontan oder online entstanden. Wir hatten eine physische Infrastruktur und ein soziales Gerüst, das es uns ermöglichte, unseren Raum und unser Netzwerk von Freiwilligen zu erhalten. Der schwierige Teil der Aufrechterhaltung eines Projekts ist der Aufbau einer kritischen Masse.

Wir haben immer versucht, mit verschiedenen Formen und Praktiken zu experimentieren und unsere Dynamik nicht stagnieren zu lassen. Was wir tun, sollte sich nie wie obligatorische Routinearbeit anfühlen, sondern eher wie etwas, das Beziehungen, Vertrauen und Kapazitäten aufbaut. In den letzten zwei Jahren hat dies die Form von Barbeques im Freien angenommen, und wenn sich das sicher anfühlte, haben wir eine Filmreihe gestartet, ein Fußballteam organisiert, das in einer lokalen Liga spielt, Karaoke-Abende in einer Bar in der Nähe veranstaltet, Bastelprogramme für Kinder angeboten, Podcasts, Poesielesungen, eine Saatgut-Tauschbörse, digitale Mesh-Netzwerke aufgebaut, ein Fitnessstudio eröffnet und eine Holzwerkstatt in unserem Raum eingerichtet.

Unser Ziel war es nie, nur eine Katastrophenhilfeorganisation [disaster relief organization] zu sein: Wir versuchen, eine gemeinschaftliche Lebensform aufzubauen, die es wert ist, bewohnt zu werden, und zwar nicht nur während einer Pandemie, eines Hurrikans oder eines wirtschaftlichen Abschwungs.

Zu diesem letzten Punkt habt ihr eine politische Methodik vorgeschlagen, die ihr “Desaster-Konföderalismus” nennt.

Während der Occupy-Wall-Street-Bewegung in den Jahren 2011-2012 gab es viele öffentliche Besetzungen, spontane Versammlungen und Arbeitsgruppen sowie Demonstrationen gegen die Banken und die Polizei, die vom Arabischen Frühling und den Ereignissen in Spanien und Griechenland inspiriert waren. Diese schienen Vorlagen dafür zu bieten, wie Menschen über ihre gemeinsame Prekarität und Isolation zusammenkommen und darüber nachdenken können, wie sie ihr Leben umgestalten wollen. Die Reaktion der gegenseitigen Hilfe auf COVID war ähnlich. Überall bildeten sich spontan neue Gruppen, und die Menschen nutzten die sozialen Medien, um sich zu organisieren und ihren Nachbar*innen beim Überleben zu helfen.

Die politische Frage ist, wie wir diese Praktiken und Beziehungen außerhalb von spektakulären Katastrophen zu einem Teil unseres Alltagslebens machen können.

Wenn sich die Dinge beruhigen, werden wir so schnell wieder in den Status quo der Lohnarbeit und der repräsentativen Politik zurückgezogen, in das, was Abdullah Öcalan “kapitalistische Moderne” nennt. Für uns ist die Vernetzung von autonomen Initiativen und lokalen Gruppen das, was wir “Desaster-Konföderalismus” nennen: Es bedeutet, diese Formen als unsere eigenen Institutionen weiterzuentwickeln und eine Macht aufzubauen, die von denen getrennt ist, die die Krisen, die Isolation und die Schwäche überhaupt erst verursachen.

Jetzt, wo wir einen viel größeren Spielraum haben, versuchen wir in Zusammenarbeit mit Gruppen wie Symbiosis und dem Institute for Social Ecology um diese Idee des Desaster-Konföderalismus herum zusammenzukommen.

Was sind die Zukunftspläne für die Tafel?

Seit wir mit der Ausgabe von Lebensmitteln begonnen haben, haben wir unsere Partnerschaften erweitert, unter anderem mit Fenix, einem lokalen Taxistand, der sein Ladenlokal in eine Lebensmittelausgabe umgewandelt hat; Club A, einer Gruppe von Anarchist*innen, die eine Lebensmittelausgabe in einem besetzten Gemeinschaftsgarten betreiben; und mit Bauernhöfen im Hudson Valley, die uns kostenlos Lebensmittel zur Verfügung stellen. Unsere langfristigen Pläne sehen vor, die Essensausgabe so lange aufrechtzuerhalten, wie wir in der Lage sind, die Versorgung mit Lebensmitteln aufrechtzuerhalten, und so lange unsere Nachbar*innen bedürftig bleiben.

In mancher Hinsicht sieht unser Raum und unsere Organisation völlig anders aus als vor COVID, aber was wir tun, ist genau das, was wir uns erhofft hatten, als wir den Raum in der Bewegung von 2014 gründeten: sich gemeinsam für das Überleben zu organisieren und ein gemeinsames Leben aufzubauen.

— Andreas Petrossiants