Dieser Text ist zuerst auf Englisch bei Freedom News erschienen. Wir veröffentlichen hier die Übersetzung, weil wir denken, dass er auch für deutsche Antiautoritäre im hiesigen Kontext derzeit von Interesse ist.

Bitte beachtet auch den ersten Beitrag von Anna Kleist, auf den sich dieser Text bezieht und den wir auch auf unserem Blog übersetzt haben: klick.


Fünf Tipps für ‚Aktivist:innen‘ in lokalen Gruppen

Analyse, 14. April 2020

Von Anna Kleists Artikel über die anfänglichen paar Wochen der Organisation lokaler gegenseitiger Hilfe in UK angeregt, fühlte ich mich inspierert ein paar (ein bisschen längere!) Gedanken dazu niederzuschreiben, die auf einigen Punkten aus Annas Liste aufbauen, und ein paar von ihnen mehr hervorhebt. Sie bauen sowohl auf einigen frühen Erfahrungen in der Organisation gegenseitiger Hilfe in den letzten Wochen auf, als auch auf mehreren Jahren community-basierter Organisierung und meheren Jahren davor, in denen ich in weniger-lokalen Formen von Kampagnen und Aktivismus involviert war. Dieser Text richtet sich insbesondere an Leute, die die derzeitige Krise aus Aktivist:innen-Räumen (mit großem A) heraus gefegt, und das erste Mal in nachbarschafts-basierte Gruppen hinein geschwemmt hat. Dies sind oft Leute, die Vorannahmen darüber was Organisierung bedeutet mit sich brachten, in Gruppen die ihre Verbindung aus geteilter Ideologie aufbauen, und nicht auf einem geteilten Ort.

1. Unsere Straße ist keine Aktivist:innengruppe

Ganz anders als Gruppen von Klima-Aktivist:innen, identitätspolitische Kampagnen oder solche die zusammenkommen um die großen Ungerechtigkeiten anzugreifen, kommen Menschen zu lokalen Gruppen für Gegenseitige Hilfe mit nur zwei geteilten Gemeinsamkeiten: 1.) der Ort in dem sie leben, und 2.) ein Gefühl davon, dass wir einander im gegenwärtigen Durcheinander brauchen. Wenn wir irgendwelche Annahmen jenseits dieser beiden Punkte treffen, machen wir etwas anderes als Gegenseitige Hilfe – wir bauen lokale Aktivist:innen-Gruppen auf. Das mag nicht nach einer schlechten Sache klingen, aber wenn mich lokale Organisierungs-Arbeit überhaupt etwas gelehrt hat, dann dass die meisten Leute nicht genügend unserer Überzeugungen teilen, um dass zu einer brauchbaren Strategie für lokale Organisierung zu machen. (Warum, glauben wir, hat nicht jede Strasse schon eine eigene anarchistische Aktionsbasis?) Wenn wir versuchen unseren lokalen Gruppen für Gegenseitige Hilfe entlang derselben Linien zu organisieren, wie ein Protest-Camp, reden wir am Ende nur noch mit uns selbst. Wir – insbesondere jene von uns, die von vielfältigen toxischen und unterdrückenden Ideen, die in unseren Nachbarschaften zirkulieren, weniger betroffen sind – werden Wege finden müssen, um geduldig zu bleiben und gemeinsam einige ziemlich große Unterschiede durchzusprechen, anstatt direkt Leute auszuschließen oder zu verstoßen, weil sie denken wir brauchen die Polizei um uns vor unverantwortlichen Nachbar:innen zu schützen, oder weil ihrerer Meinung nach 5G für COVID19 verantwortlich ist. (Es müsste definitiv ein längerer Essay über die Widerprüche zwischen Werten und Gemeinschaft geschrieben werden, aber ich belasse es jetzt mal hierbei.)

2. Unseren inneren Sozialarbeiter fernhalten

Für welche radikalen Überzeugungen wir auch immer eintreten, es braucht für jene von uns, die privilegiert genug sind nicht auf Andere für unsere unmittelbaren Bedürfnisse angewiesen zu sein, aktive Arbeit um nicht die Machtstrukturen eines ‚Gönner und Bedürftige‘-Wohlfahrtsmodells zu reproduzieren. Diese Arbeit ist nicht einfach, aber wenn wir an Gegenseitige Hilfe glauben, müssen wir auch zwei weitere Dinge glauben: 1.) die Leuten brauchen uns, und 2.) wir brauchen die anderen Leute. Die spezifischen Formen, die diese Bedürfnisse annehmen, werden sich immer aufgrund der Leute, der Zeit und des Kontextes unterscheiden. Aber wenn wir nicht gewillt sind, unsere Bedürfnisse kundzutun, verletzlich zu sein, nach Hilfe zu fragen und anderen die Möglichkeit geben uns zu unterstützen, betreiben wir eigentlich gar keine Gegenseitige Hilfe. Wir müssen auf der Arbeitsgrundlage aufbauen, dass jede:r von uns in gleichem Maße dazu berechtigt ist unsere Gruppen um Unterstützung zu bitten, selbst wenn unsere Bedürfnisse nicht so dringlich erscheinen, wie die älterer Personen, die ihre Medikamente nicht bekommen oder von Familien, die versuchen ihre Kinder zu ernähren, weil ihr Einkommen weggefallen ist. Andere um Hilfe bitten, macht es manchmal auch für jemand anderes einfacher dasselbe zu tun.

3. Wer sich uns anschließt, ist meistens nicht am stärksten betroffen

Die freundlichen Texte, die wir auf unsere Flyer drucken, erscheinen nicht unbedingt allen als freundlich. Die, die mit der größten Kackscheiße in der rassistischen, kapitalistischen Welt in der wir leben, konfrontiert sind, haben oft mehr Gründe dafür Fremden nicht standardmäßig zu vertrauen. Wege zu finden um dieses Vertrauen und diese Beziehungen aufzubauen ist schon zu guten Zeiten nicht einfach, aber es ist noch schwieriger in Zeiten der Kontaktsperre [lockdown]. An Türen zu klopfen (und in sicherer Entfernung zu stehen) um die Gruppe ein bisschen besser vorzustellen, kann eine gute Folgeaktion zum Flyerverteilen sein. Wenn Obdachlose auf der Straße an uns vorbeigehen, ein Gespräch mit ihnen anzufangen, eine andere. Flugblätter zu übersetzen oder Leute in der Gruppe zu haben, die die üblichen Sprachen sprechen, um mehr Leute anzusprechen funktioniert manchmal. Die Leute, die schon Mitglieder der Gruppe sind, zu ermuntern ihren direkten Nachbarn davon zu erzählen, damit die Einladung aus einer vertrauteren Quelle kommt, kann auch helfen. All dies dient dazu, die Verbindungen aufzubauen, die unsere Community dabei unterstützt, in dieser Krise und auch danach, zusammenzuarbeiten und sie zu überstehen. Wenn wir keinen aktiven Aufwand betreiben um Vertrauen über unsere Unterschiede an Privilegien hinweg aufzubauen, können diese Gruppen am Ende die Macht derer verstärken, die eh schon mehr davon haben und die mit weniger weiter isolieren.

4. Lokaler = weniger Koordination = breitere Verteilung von Macht

Meine Strassen-Gruppe [bei WhatsApp] hat ein Dokument, dass hin und wieder geteilt wird – es ist eine Tabelle mit allen Hausnummern der Straße und einem ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ neben jeder Nummer, die verzeichnet, ob jemand von dieser Adresse in der WhatsApp-Gruppe ist. Manchmal schreibt jemand eine kleine Notiz in die nächste Spalte, wenn jemand unter dieser Adresse kein WhatsApp hat, oder auf anderem Wege von Nachbarn aufgesucht oder angesprochen werden möchte. Im Gegensatz dazu ist die Stadtteil-Gruppe bei WhatsApp überflutet mit GoogleDocs, die alle möglichen Arten von Sachen organisieren und sortieren. Das Problem ist, dass die meisten Leute nicht mit ihnen interagieren. Und die die es tun, haben am Schluss mehr Macht und Wissen in der Gruppe, als die die es nicht tun. Auf der Strassen-Ebene arbeiten einige von uns mehr mit der Tabelle als andere, was uns unweigerlich ein bisschen mehr Übersicht gibt, als denen in der Gruppe, die sie nicht angeschaut oder sich eingetragen haben. Aber mit jedem zusätzlichen Dokument sind verhältnismäßig weniger Leute in die praktischen Grundlagen der Gruppe einbezogen. Wenn das der Fall ist, tendiert die Situation dazu wieder auf den Standard der ‚Geber‘ und ‚Nehmer‘ zurückzufallen – während die meisten Leute, die sich in der Welt der Online-Dokumente nicht so wohl fühlen, einfach die Gruppe verlassen. Wenn wir das Gruppenausmaß klein halten, können wir auch die Verwaltungsarbeit minimal, sichtbar und zugänglich halten und damit einen Ort bewahren an dem mehr Leute die Gegenseitige Hilfe angehen können, für die sie Teil der Gruppe geworden sind.

5. Wir können mehr radikale Essensverteilungen starten, die mehr Leute satt macht

Annas Artikel macht einen wirklich wichtigen Punkt wie ein Nachbar, der die Einkäufe eines andere vom Asda [Supermarkt] abholt, dabei helfen kann ihn am Leben zu halten, aber auf eine Art und Weise, die weder den Kapitalismus noch die ungleiche Verteilung von Essen angreift. Es hilft gleichsam auch nicht denen die ihre Arbeit verloren haben und einfach kein Geld haben, um zum Asda zu gehen. Ich möchte die Wichtigkeit diese simplen Aktionen als Anfang nicht kleinreden, aber wir können Ernährung auf sehr unterschiedliche Weise angehen, jenseits davon wer zu den großen Supermarktketten gehen kann und wer nicht. Das könnte bedeuten, Essen auf der Straße anzubauen und zu verteilen, womit wir die Kosten und die Auswirkungen der Lieferketten unserer Ernährungsweise reduzieren. Es könnte bedeuten zu containern (sicherer als alle potentiellen Ansteckungsvektoren in einem Supermarkt!) und das Essen aus den Containern zu verteilen, womit wir gleichzeitig Lebensmittelverschwendung und -kosten angehen. Es könnte bedeuten Großhandelsbestellungen bei lokalen Bauernhöfen und unabhängigen Großhändlern für ganze Strasse zu machen, um die Kosten zu reduzieren und/oder unseren Nachbarschaften, die die ökonomischen Folgen der Krise spüren werden, frisches Essen zu ermöglichen. Es gibt so viele Wege ernährungs-basierte Gegenseitige Hilfe zu betreiben, die es den großen Supermarktketten nicht ermöglicht die Kontrolle über unsere Leben zu konsolidieren! Ich bin nicht sicher ob das hier irgendeine hilfreiche Richtung anbietet, oder einfach nur den Internet-Hyperlink-Verkehr erhöht, der mehr Stadtviertel, Kommunen und regionale WhatsApp-Gruppen verstopft, aber ich bin auch bei Twitter (@hackofalltrades) wenn ihr eure eigenen Reflektionen anstellen und Notizen vergleichen wollt.

Ross Chrisdale